Engelmagazin April 2011
Nach dem Tod der Bärbel Mohr haben ihre Kinder daheim einen Altar für Mama aufgebaut. Mit Engelchen, Bildern, Blumen und Kerzen. Das ENGELmagazin besuchte den Witwer in dem Haus, in dem jetzt das Leben weitergeht, in dem ihre 9-jährigen Zwillinge toben, in dem die
Energie der Verstorbenen noch zu spüren ist. Es wurde ein tiefes
Gespräch über das Vermächtnis der Bärbel Mohr, über das Rätsel der letzten Antwort und den Weg einer Seele
Von Tonio Montel
Als er vor mir den kleinen Hügel zum Grab hinauf geht, wirkt er auf mich wie der Gastgeber, der mich in sein Haus führt. Über den Gartenweg hinein in seine neue Welt der großen Stille, die in den letzten Monaten für Manfred Mohr zu einem Ort wurde, an dem er seinem Glück von einst nahe war. Seiner Frau nahe. Das Friedhofstor stößt einen klagenden Laut aus, ein Vogel singt, begleitet unser Schweigen.
Noch im Auto auf dem Weg zum Grab, hat er gesagt: „Der Platz, an dem Bärbel liegt, ist ein sehr, sehr schöner, ist gleich an der Amper, auf einer kleinen Anhöhe.“ Er sagt es so sanft, so zufrieden, als könnte ihn trösten, dass seine Frau einen guten Platz gefunden hat, absurd. Aber im Grunde tröstet ihn nichts, vielleicht die Briefe von Freunden. Vielleicht auch ein bisschen unser Gespräch, das auch er sich gewünscht hat, um sich selbst über einiges klar zu werden.
Ich selbst bin ratlos, ratlos der Frage ausgeliefert, warum Bärbel Mohr sterben musste, warum sie mit 46 sterben musste, warum sie diesen Mann neben mir, den sie liebte, der sie liebt, mit zwei kleinen Kindern alleine lassen musste. Das Mädchen und der Junge sind 9, sie sind Zwillinge.
Ich weiß, dass ich auf diese Frage nie eine Antwort finden werde, als ich am Grab in seine wasserblauen Augen schaue. Ich fliehe vor diesem Blick. Weil zu viel, viel zu viel in diesen wasserblauen Augen ist, was mir nahe geht. Unfassbare Trauer, die ich verstehe. In meiner Hilflosigkeit stelle ich ihm die Frage: Sie vermissen ihre Frau wohl sehr? Er spricht ein kleines, verlorenes, nachdenkliches: „Ja …, ja …“ Blöde Frage, sage ich. Wir lachen, dann sagt er: „Über Trauer kann man nicht reden, die muss man erleben, durchleben. Da kann auch niemand helfen.“
Ich frage ihn: Bärbel wird jetzt ihr erster Gedanke sein, wenn Sie am Morgen erwachen, alleine erwachen. „Ja … aber Bärbel ist nicht wirklich weg, sie ist hier präsent. Was fehlt ist eher körperlich, nicht innerlich, nicht geistig. Natürlich hadere ich mit Gott jeden Tag wie jeder Mensch in meiner Situation“, sagt er. Der Schock, wenn es passiert, wenn es zu Ende ist, und die Einsamkeit, die der Tod zurücklässt sind in diesen Augen. Wer kann schon verstehen, dass ein Mensch wie seine Frau stirbt, die so viele positive Energien in dieses Leben brachte, für Millionen von Menschen brachte und vielleicht deshalb für sie selbst nichts mehr übrig blieb. Ist das so? Sie sehen mich ratlos, sage ich, ich bin ratlos. Was meinen Sie, wo Ihre Frau jetzt ist? „Ich habe sie im Herzen, ich kann es auch fühlen, dass sie bei den Kindern ist. Wo ist sie jetzt? Ich denke, in ganz praktischem Sinne kann sie nicht sterben, weil ihr Werk bleiben wird. Jeden Monat kommt ein neues Buch von ihr in einer Sprache, die ich nicht kenne, auf meinen Schreibtisch.
In seiner Biographie über Bärbel Mohr, die im Herbst erscheinen wird, schreibt Manfred Mohr: Sie selbst wusste doch so viel. Wie also konnte sie krank werden, ja gar sterben? Mit vielen Menschen habe ich in den letzten Monaten Gespräche dieser Art geführt. Ich möchte versuchen, auf verschiedene Aspekte eine Antwort zu geben. Auch wenn die letzte Antwort dazu vielleicht nicht gegeben werden kann. Allein Bärbel wird sie jetzt wissen. Auf ihrer Wolke im siebenten Himmel.
Bärbel liegt in diesem Grab oben auf dem Hügel, unter weißen Engelchen, mit dem er das Grab mit den Kindern verzierte, unter dem Holzkreuz mit dem Trauerflor, der im Wind weht. Manfred Mohr steht oft da oben, alleine, er sagt: „Die Kinder wollen nicht hierher. Ich frag sie manchmal, ob sie mitkommen wollen. Ne, wollen sie nicht.“
Als Bärbel Mohr starb, genau in diesem Moment, spürten hellsichtige Freunde plötzlich ihre starke Energie daheim bei ihr im Wohnzimmer, bei den Kindern. Sie war begeistert Mutter, sie hat sich diese Zwillinge gewünscht und schrieb darüber eine ganz private, berührende Kindergeschichte, die ihre Kinder später lesen sollten. Vielleicht spüren die Zwillinge diese Energie von Mama, daheim im Wohnzimmer, das sie in ein Abenteuerland verwandelt haben, das Spielsachen überfluten.
Der Junge tobt mit seinem Freund Stefan hinterm Sofa. Das Mädchen will mit ihrer Freundin Luft kochen, braucht dafür vom Papa eine Dose Bohnen. Man merkt, dass hier die Kinder Herr im Haus sind, obwohl der Papa ganz streng Nein sagen kann, ganz konsequent, ganz kategorisch. Als wäre er gewachsen als einsamer Vater. Manfred Mohr war immer schon ein bisschen die Frau im Reihenhaus draußen vor München in einem umgebauten Gutshof, hat gewickelt, hat die Waschmaschine angeschmissen, hat gekocht. Er hat Chemie studiert, aber bald sucht er etwas anderes, lernt bei einem Seminar Bärbel Mohr kennen, geht in den öffentlichen Dienst: „Weil ich die solide Basis sein sollte, festangestellt. Während sie die Freiberuflerin ist, die schreibt.“ Ganz bodenständig: „Bärbel war nun die Wissenschaftlerin, ich war derjenige, der sich mit Gefühlen beschäftigt hat, der sie in ihre Arbeit einbrachte. Ich war, wie gesagt, die Frau, sie der Mann. Das haben wenige begriffen.“
Wie geht man in dieser Situation mit den Kindern um, Herr Mohr? „Ich glaube, dass Kinder das nachleben, was man ihnen vorlebt. Bärbel und ich haben vor ihrem Tod ein sehr gutes Jahr erlebt. Wir sind uns sehr nahe gekommen durch die Krankheit. Wir sind uns auch heute noch sehr nahe.“ Wie erlebt man so ein Jahr, das letzte Jahr mit seiner Frau? „Es sind ganz viele kleine Abschiede gewesen, Momente der Hoffnung, Momente der Enttäuschung. Wir sind uns dabei noch näher gekommen. Die Kinder haben das miterlebt, wir sind immer davon ausgegangen, dass sie gesund wird. So dass die Kinder einen ganz normalen Alltag erlebten.“
Das ganz normale Leben beim Sterben der Bärbel Mohr. Sie begann Anfang 2010 mit ihrem Mann ihr letztes Buch („Das Wunder der Selbstliebe“), das jetzt auf den Markt kam. „Für Bärbel war klar, dass ihre Selbstheilung über die Selbstliebe, über Gott geschehen kann. Doch die Krankheit ist auch eine Heilung, sie war ihre große Herausforderung. Sie ist nicht daran gescheitert. Weil sie innerlich immer gestrahlt hat, aus ihren Augen gestrahlt hat. Alle Ärzte, alle Heiler, um uns herum haben auf den Spontanheilungsmoment gewartet. Aber vielleicht hatte ihre Seele ein anderes Ziel.“
Es braucht viel Kraft, Herr Mohr, den ganz normalen Alltag zu spielen, wenn nichts mehr normal ist. „Ich habe bis zuletzt geglaubt, dass sie aufsteht und geheilt ist. Für mich war klar, dass sie wieder gesund wird. Wie das bei Bärbel innerlich aussah, kann ich nur mutmaßen.“ Sie haben nicht darüber geredet, über Ängste, über Hoffnungen? „Es wäre ein Eingeständnis gewesen, dass es passieren kann, deshalb haben wir nicht darüber gesprochen. Ob das gut war, weiß ich nicht.“ Wie macht man Kindern klar, dass die Mutter gestorben ist? Dass Mama nicht mehr wiederkommt? „Die Kinder haben es ja miterlebt. Der Moment, wo es dann vorbei ist, der ist natürlich schlimm, den kann man ihnen auch nicht abnehmen. Ich habe mir auch gedacht, dass es das Schlimmste ist, es den Kindern zu sagen. Und es war schlimm. Aber Kinder sind pragmatisch, sie denken schnell an Morgen, bald kommt Weihnachten, Geburtstag. Ich lerne von meinen Kindern, nach vorne zu schauen.“
Klingt einfach, alltäglich. Ist es nicht. „Kinder begreifen den Tod nicht ganz, weil ihnen die Erfahrung dazu fehlt, die wir haben, den Tod der Eltern, den Tod eines Freundes. Als es so weit war, haben sie im Wohnzimmer einen Altar für Mama gebaut, haben Bilder für Mama gemalt. Bilder von Wolken, von Engeln, vom Himmel. Ich hab dich lieb, für Mama, stand auf den Bildern.“
Jetzt steht der Altar auf dem Boden vor dem Schreibtisch in seinem Arbeitszimmer, an dem in den letzten vier Monaten seine Biografie über Bärbel entstand („Die Kunst der Leichtigkeit“), die im Herbst herauskommen wird. Ein großes Bild seiner Frau steht an diesem Altar, Engelchen, Blumen, ein indischer Gott. Manfred Mohr sagt: „Bärbel war selbst die größte Zweiflerin, sie musste sich immer wieder selbst überzeugen. Sie war immer eine von uns, sie hatte Zweifel und Probleme wie wir, deshalb war sie auch so authentisch, deshalb haben sie so viele Menschen geliebt. Das war ihr Weg.“ Warum ist sie den Weg nicht weitergegangen? „Weil es mit der Unsterblichkeit so ein Problem ist.“ Er lacht. „Indirekt ist doch in dieser Frage der Vorwurf, dass sie nicht unsterblich wurde …“
Aus der Biografie von Manfred Mohr: In einem kurzen Text beschreibt Bärbel selbst ein Nahtoderlebnis, das sie mit etwa 20 Jahren hatte: „Ich fuhr während eines Urlaubs auf Korfu gemeinsam mit einer Freundin auf einem Mofa sehr leicht bekleidet über kurvigste Bergsträßchen. Plötzlich musste ich einem Lastwagen ausweichen, konnte nicht mehr rechtzeitig bremsen und raste mit dem Mofa über die Kante der Strasse. Die Felsklippe ging sicher 100 Meter steil nach unten. Ich sah nur noch das Meer und dachte in dieser Sekunde: „Jetzt bist du gleich tot, komisch, wieso stört dich das gar nicht, du bist ja so relaxt. Aber es fühlt sich an, als gäbe es gar nichts zu verpassen …“ Ein Strauch hielt ihren Absturz auf, rettete sie.
Das Leben geht weiter, Zitat aus seiner Biografie: Der blaue Himmel ist noch da. Die Sonne scheint noch immer. Obwohl Bärbel Mohr als Mensch nicht mehr unter uns ist. Manfred Mohr arbeitet immer noch im öffentlichen Dienst, hat seinen Job auf 30 Stunden reduziert, um immer da zu sein, wenn die Kinder daheim sind. Nachts wenn sie schlafen, wenn es still wird in diesem Haus, sehr still, schreibt er. „Als Bärbel nicht mehr die Kraft hatte, sich um alles zu kümmern, hat mein Sohn einmal gesagt, Papa ist jetzt die Mama.“
In seiner Biographie schreibt er: Vielleicht soll uns ihr Tod auch verdeutlichen, dass wir mehr sind als nur unser menschlicher Körper … Heilung kann auch bedeuten, den Sinn des Erdenlebens erfüllt zu haben. Vielleicht bedeutet der Tod ja auch, bereit zu sein für den nächsten Schritt. Ein guter Freund von uns erlebte ein sehr ähnlich schmerzhaftes Erlebnis, als sein 6-jähriger Sohn bei einem Autounfall plötzlich verstarb. Auch er haderte mit seinem Schicksal. Auf der Suche nach Antworten fand er eine, die ihm wirklich Trost spenden konnte: „Dein Sohn hat sich dieses Erdenleben ausgesucht, um die Erfahrung zu machen, voll und ganz angenommen und geliebt zu sein. Diese Erfahrung habt ihr als Eltern ihm geschenkt. Damit war der Zweck seines Erdenlebens erfüllt.“
Manfred Mohr wirkt wie ein Mann, der sich mit seinem Schicksal arrangiert hat, abgefunden. Der mit der Tragödie lebt, dennoch geht etwas Verlorenes von ihm aus. Vielleicht weil ein Witwer so hilflos wirkt, ganz auf sich selbst zurückgeworfen, alleine: „Vor dem Tod meiner Frau haben wir die Kinder mit dem Auto zur Schule gebracht. Gleich am Tag danach wollten sie mit dem Bus fahren, was sie seitdem tun. Und sie wollten auch ein eigenes Zimmer haben, jeder für sich alleine, auf dem Speicher.“ Als hätten sie sich spontan zur Selbständigkeit, Selbstverantwortung entschlossen, um den Papa mit der Verantwortung nicht alleine zu lassen.
Unter uns im Wohnzimmer lärmen die Kinder. Er bringt mir ein Foto. „Unsere Hochzeit. Jemand hatte dabei eine Wolke fotografiert.“ Das Foto: Bärbel und Manfred sitzen auf einer Wiese, beide ganz in Weiß, darüber eine Wolke in Form eines Herzens am Himmel und zwischen den Bäumen fliegt ein kleiner Engel: „Als das Bild belichtet worden ist, war plötzlich dieser Engel drauf. Es war nicht die Art von Bärbel, sich mit irgendwas zu brüsten. Deshalb haben wir das Foto geheim gehalten, niemand gezeigt.“
In seiner Biografie schriebt Manfred Mohr: Meiner Meinung nach sagt ihr Tod genau das aus: „Geh jetzt allein. Ich habe dir viele Hinweise gegeben, viele Antworten gezeigt. Manche Fragen habe aber auch ich noch nicht gelöst. Denn ich bin ein Mensch, voller Fehler, Zweifel und Mängel. Geh du nun meinen Weg weiter. Für dich, aber auch für andere Menschen. Finde du nun die Lösung, die ich suchte. Ich habe dich so weit gebracht, wie ich nur konnte. Hier endet mein Weg, aber deiner geht hier weiter.“